Krankheit und Karte. Die Gothaer geomedizinische Kartographie

Von Tobias Mörike (Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) und Petra Weigel (Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha)

Kreisdiagramme in Ländergrenzen geben derzeit die Fallzahlen für Coronainfektionen an, doch wie entstanden Darstellungen für medizinische Karten? Wie wurden Statistik und topographische Informationen für die Medizin zur Beschreibung und Erklärung von Krankheiten nutzbar gemacht? Ein entscheidender Impuls waren die Cholera-Epidemien, die seit den 1830er Jahren Europa in mehreren Wellen erfassten. Sie trafen auf eine sich professionalisierende Kartenpraxis, die Teil der sich im 19. Jahrhundert formierenden Wissenschaften wurde, und auf ein Publikum, das im Umgang mit den sich als Massenmedien etablierenden Karten zunehmend vertrauter wurde.

Als im 19. Jahrhundert die Cholera, von Indien ausgehend auf Europa übergriff, entstanden auch geomedizinische Karten, um die Ausbreitung der Krankheit zu veranschaulichen. Die Medizingeschichte listet bis 1850 weit über 30 Cholera-Karten auf, von denen eine Reihe auch in der Sammlung Perthes Gotha nachzuweisen sind. Zwei derartige Cholera-Karten gehen auf Kartographen zurück, die für den Gothaer Justus Perthes Verlag als dem damals führenden deutschsprachigen Kartenverlag wirkten: Heinrich Berghaus, Autor des Verlagshauses seit den frühen 1830er Jahren, entwarf 1847 als einer der letzten Karten seines „Physikalischen Atlas“ einen „Planiglob zur Übersicht der geographischen Verbreitung der vornehmsten Krankheiten, denen der Mensch auf der ganzen Erde ausgesetzt ist“ und verortete auf einer Nebenkarte in einer zeitlichen Abfolge die weltweiten Ausbrüche der Cholera als „der verheerendsten Krankheit des 19. Jahrhunderts“ (Anm. 1).

August Petermann, Cholera Map of the British Isles, © Forschungsbibliothek Gotha, Sammlung Perthes, SPK 547-112085954.

Einen wichtigen Beitrag zur Darstellung der Cholera in Verbindung mit Statistik schuf August Petermann, der 1854 nach Gotha kam und Chefkartograph des Perthes Verlages wurde. Als Schüler von Berghaus setzte Petermann neue Maßstäbe für die thematische Kartographie. Ein sinnfälliges Zeugnis dafür stellt Petermanns „Cholera Map of the British Isles“ von 1848 dar. In ihr visualisierte Petermann die ersten Ausbrüche der seit den frühen 1830er Jahren in Großbritannien grassierende Seuche, die in London als einer der größten und am dichtesten besiedelten Stadt des Empire besonders dramatische Folgen hatte (Anm. 2, Abb.). Anlässlich des für Großbritannien schwersten Choleraausbruchs von 1848/49 wertete Petermann, der damals in London als freischaffender Kartograph wirkte und unmittelbarer Zeuge des Verlaufs der Epidemie war, alle Berichte der Cholera-Wellen von 1831 bis 1833 aus, die allein in London 5.000 Tote gefordert hatte. In der Kombination von Bevölkerungszahlen, geographische Angaben und Sterbezahlen verdeutlichte die Karte, dass die Krankheit zunächst in Hafenstätten ausbrach und in dicht bevölkerten Vierteln in niedriger Lage besonders viele Opfer forderte. Petermanns Modell war einer der ersten Versuche einer Punktkarte. Er stellte die Todeszahlen im Verhältnis zur Bevölkerung durch sich abdunkelnde Punkte dar. Petermann kombinierte Diagramme und ein topographisches Bild der britischen Inseln mit einem Stadtplan von London und schuf damit eine der uns heute so vertrauten Informationsgraphiken avant lettre, die in der gegenwärtigen Corona-Pandemie die Medien dominieren.

Als Petermanns Karte erschien, war noch nicht klar, wie und warum die Cholera ausbrach. 1855 wies der englische Arzt John Snow auf den engen Zusammenhang zwischen verunreinigtem Trinkwasser und Cholerainfektionen hin und damit auf einen der wichtigsten Übertragungswege der Krankheit (Anm. 3). Die medizinische Ursachenforschung steckte um 1850 jedoch noch in ihren Anfängen. Geleitet wurde sie von der die Medizingeschichte bis weit in das 19. Jahrhundert prägenden Miasmentheorie, so dass die frühen Forschungen des italienischen Anatomen Filippo Pacini völlig unbeachtet blieben, der schon 1854 das Vibrio cholerae beschrieben und damit die bakteriologische Ursache der Krankheit erkannt hatte und dem zu Ehren das Bakterium heute benannt ist (Anm. 4). Vertreter der Miasmentheorie machten hingegen Umweltfaktoren wie Luft oder Boden als Auslöser der Krankheitsbrüche aus und negierten eine direkte Infektion von Mensch zu Mensch. So hielt 1851 in Ägypten der österreichische Arzt Franz Pruner die „eigentümliche Konstitution der Luftatmosphäre“ für die Cholera verantwortlich und behauptete, dass die Cholera nicht ansteckend wäre (Anm. 5). In eine ähnliche, irrige Richtung gingen Erklärungen, die Ende der 1860er Jahre der Münchener Chemiker Max von Pettenkofer fand, der die Epidemien auf die Beschaffenheit des Bodens zurückführte, der abhängig von seiner Konsistenz die Verbreitung der Cholerakeime befördere oder verhindere (Anm. 6). Erst 1883 setzte sich der Berliner Mediziner Robert Koch mit dem schon von Pacini verfolgten bakteriologischen Ansatz durch und identifizierte den von ihm als „Kommabakterium“ bezeichneten Erreger der Cholera, so dass wirkungsvolle Therapien und Gegenmaßnahmen entwickelt werden konnten. So empfahl Koch angesichts der Choleraepidemie 1892 in Hamburg, des bis dahin heftigsten, aber auch letzten Ausbruchs der Krankheit in Deutschland, Maßnahmen, die weit über die Isolierung von Kranken hinausgingen, sondern – wie im derzeitigen globalen Corona-Lockdown – auf die Eindämmung der Infektion durch gezielte Unterbindung sozialer Kontakte setzte: Schulschließungen, Versammlungsverbot, Einstellung industrieller Produktion, Stopp der Auswanderung, deren Drehkreuz Hamburg war (Anm. 7).

Zugleich schärfte die Cholera das die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts tiefgreifend erfassende sozialhygienische Bewusstsein. Wie keine andere Krankheit des 19. Jahrhunderts machte die Cholera den Zusammenhang zwischen den Epidemiewellen und den katastrophalen hygienischen und wohnlichen Verhältnissen in den Städten Europas sichtbar, deren dichtgeballte Bevölkerung am stärksten von der Seuche betroffen wurde. Diese Evidenz bildet auch Petermanns Cholera-Karte ab: Mit seiner neuartigen Kartensprache zeigte Petermann, dass die Zentren einer ungebremsten Frühkapitalisierung und nichtregulierten Urbanisierung wie London, Birmingham, Manchester, Sheffield, Leeds und Dublin die Hotspots der Choleraausbrüche auf den Britischen Inseln waren und leistete damit einen gewichtigen kartographischen Beitrag zur Erklärung der epidemischen Verlaufsformen der Infektionskrankheit in Europa. Die Cholera wurde, neben Tuberkulose und Typhus, zu einer der entscheidenden Antriebskräfte eines nach hygienischen Prinzipien ausgerichteten Umbaus der Wohnquartiere, der Trinkwasserversorgung, der Abwasser- und Müllbeseitigung sowie des Bestattungswesens der europäischen Städte des 19. Jahrhunderts. Snow, Pettenkofer und Koch, so unterschiedlich sie in ihren Auffassungen über die Ursachen der Cholera auch immer waren, gehörten deshalb als Sozialhygieniker auch zu den wichtigsten Protagonisten einer modernen Hygiene- und Gesundheitsfürsorgebewegung.

Anm. 1

Berghaus, Hermann: Physikalischer Atlas, 7. Abteilung Anthropographie, Nr. 2, Gotha: Perthes, 1847 [laut Berghaus’ Erläuterungen zur Karte]; https://www.oldmapsonline.org/map/rumsey/2515.064 | Camerini, Jane R.: Heinrich Berghaus’s Map of Human Diseases, in: Med Hist Suppl. 20 (2000), S. 186–208; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2530997/pdf/medhistsuppl00027-0191.pdf | Koch, Tom: Disease Maps. Epidemics on the Ground. Chicago, Ill.: University of Chicago Press, 2011.

Anm. 2

Petermann, August: Statistical Notes to the Cholera Map of the British Isles, London: John Betts 1848 | Jusatz, Helmut J.: Die geographisch-medizinische Erforschung von Epidemien, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 86 (1940), S. 201-204 mit Tafel 23 (Faksimile von Petermanns Cholera-Map) | Camerini (wie Anm. 1), S. 203, 206 (hier auch ältere Literatur) | Den Seuchen auf der Spur. 200 Jahre Infektionskrankheiten im Kartenbild, Ausstellungskatalog. Texte von Holger Scharlach, Hannover: Niedersächsisches Gesundheitsamt Hannover, 2012; Online-Ressource des Katalogs zugänglich über: https://www.nlga.niedersachsen.de/startseite/aktuelles_service/ausstellung_den_seuchen_auf_der_spur/den+Seuchen+auf+der+Spur-105707.html | Weninger, Beate: August Petermann (1848), Cholera Map of the British Isles showing the Districts attacked in 1831, 1832, 1833 (2012); https://bk.dgfk.net/2012/09/01/308/.

Anm. 3

Vinten-Johansen, Peter: Cholera, Chloroform, and the Science of Medicine. A Life of John Snow. New York [u.a.]: Oxford Univ. Press, 2003.

Anm. 4

Schmiedebach, Heinz-Peter: Pacino, Filippo, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin/New York: De Gruyter, 2005, S. 1087.

Anm. 5

Pruner, Franz: Die Weltseuche Cholera oder Die Polizei der Natur. Erlangen: Palm und Enke, 1851.

Anm. 6

Raschke, Gregor: Die Choleratheorie Max von Pettenkofers im Kreuzfeuer der Kritik. Die Choleradiskussion und ihre Teilnehmer, Dissertation, München: Technische Universität, 2007; http://mediatum.ub.tum.de/doc/646039/document.pdf

Anm. 7

Evans, Richard J.: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996 | Wunder, Olaf: Als der Tod nach Hamburg kam, in: Unser Hamburg 12 (2019), 2, S. 94-102.

Alle Internet-Ressourcen wurden am 13.04.2020 eingesehen.

 

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