Vereinigt durch die Krise? Unerwartete Begegnungen mit den Korrespondierenden Fürsten

Von Marian Hefter

Eine Krise ist, auch wenn der gegenwärtige Sprachgebrauch es anders suggeriert, im Wortsinne ja kein sich länger dahinschleppender Zustand. Eine Krise ist ein Höhepunkt, ein Wendepunkt, ein Moment der Entscheidung. Über zwei Krisen möchte ich hier berichten – eine aus dem Sommersemester 2018, eine aus der Zeit um 1700.

Beginnen wir mit der uns näheren: Während meiner Archivrecherchen vor zwei Jahren für meine Masterarbeit las ich unter vielen anderen auch die zwei Akten Oberhofmarschallamt 84 und Geheimes Archiv E V Mond 12 im Staatsarchiv Gotha. Diese Papiere, deren Inhalt, wie ich inzwischen weiß, weder selten noch ungewöhnlich ist, bedeuteten für mich einen Heureka-Moment, einen Wendepunkt im Denken. Und sie brachten mich dazu, mich noch einige weitere Jahre mit frühneuzeitlichem Aktenmaterial auseinanderzusetzen. Zunächst aber eine Skizze des Inhalts der beiden Akte:

Friedrich II., Landgraf von Hessen-Cassel, in einem Gemälde von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. 1773, Deutsches Historisches Museum.

Am 13. September 1771 hatte sich Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel „in völlig gewidmeten Vertrauen“ mit einer Frage an Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg gewandt: Man wollte gerne erfahren, mit welchem Zeremoniell in Gotha königlich-französische Gesandte empfangen würden. In Kassel hatte man gerüchteweise erfahren, die Botschafter Louis’ XV. träten neuerdings unter anderem mit dem Anspruch auf, den Weg zur Ersten Audienz beim Landesherrn in Gesellschaft eines Kammerherrn und mit zwei sechsspännigen und einem zweispännigen Wagen zurückzulegen. Im Schlosshof wollten sie von einer „im Gewehr stehenden Wacht“ mit Musik und wehenden Fahnen begrüßt werden, bei der Tafel die Hände in einem eigenen Becken waschen. Diese weitreichende Ehrbezeugungen schienen dem hessischen Landgrafen jedoch unangemessen: Ein solcher Aufwand sei nach Kasseler Erfahrungen stets exklusiv den Repräsentanten des Kaisers vorbehalten gewesen. Und die Frage sei ja auch eigentlich schon einmal geklärt worden, schrieb Friedrich II.: Die Absprachen zwischen den alten reichsfürstlichen Häusern aus dem Jahre 1700, die man in Goslar und Nürnberg getroffen hatte, seien ihm durchaus noch bekannt. Da jedoch inzwischen viel Zeit vergangen sei, wolle er sich doch lieber erkundigen, wie sich die aktuelle Praxis gestalte.

Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1699-1772), Gemälde von Christian Schilbach, 1720. Stiftung Schloss Friedenstein Gotha.

Der Gothaer Herzog Friedrich III. leitete das Hessische Schreiben zur Beantwortung weiter an seinen Oberhofmarschall, seinen Hofmarschall und seinen Reisemarschall, mithin also die geballte zeremonielle Kompetenz seines Hofes. Nach drei Wochen meldeten sich die drei Herren mit dem Ergebnis ihrer Nachforschungen beim Herzog zurück. Man hatte in den archivierten Papieren Informationen zu den Besuchen der kaiserlichen Gesandten Graf von Wurmbrandt anno 1727 und Graf von Raab 1746 sowie 1755 gefunden, man hatte sie sogar vergleichen können mit den Aufzeichnungen zur Anwesenheit preußischer, englischer und polnischer Vertreter in den Jahren 1732 und 1741. Eine Antwort nach Kassel war also grundsätzlich möglich. Doch was man nicht gefunden hatte, war zum einen eine Erwähnung eines königlich-französischen Besuchs (von einem Herrn von Follans, „der kein Ceremoniel bekommen“, einmal abgesehen). Zum andern aber hatte das Oberhofmarschallamt keine Kenntnis von irgend welchen Absprachen zwischen Fürsten, die gut 70 Jahre zuvor ein einheitliches zeremonielles Auftreten nach außen geplant hätten.

Dies hinderte den Gothaer Hof allerdings nicht, in seinem Antwortschreiben an den Landgrafen vom 27. Januar 1772 erst einmal zu behaupten, dass „gar wohl erinnerlich [sei], was auf den Fürsten-Conventen […] zur Abrede gediehen, und man hat solches an unserm Hoflager größten Theils[…] beybehalten“. Vor Ort jedoch begann nun die Suche nach Unterlagen zu diesen längst vergessenen Absprachen.

Für mich waren diese Vereinbarungen, als ich im Sommersemester 2018 auf sie stieß, nicht weiter relevant. Bedeutender war (und ist prinzipiell auch noch immer) für mich, dass sich der Landgraf von Hessen-Kassel angesichts eines bevorstehenden diplomatischen Ereignisses bei seinen Nachbarn, Freunden und Verwandten über die gegenwärtig übliche Praxis erkundigte. Inzwischen weiß ich, dass dies absolut keine seltene Art war, um einen Mangel an eigenem zeremoniellem Wissen zu beheben. Doch es steht eklatant dem entgegen, was in zahlreichen Publikationen vor allem aus dem Bereich der Historiographie und Kunstgeschichte wenigstens unterschwellig behauptet wird: Das maßgebliche Wissen um höfisches Zeremoniell in der Frühneuzeit sei in den Schriften der Zeremonialwissenschaftler zu finden. Heureka, der Wendepunkt, aber nicht zur Katastrophe, sondern zum Besseren: Seit dieser Zeit befasse ich mich dank eines Promotionsstipendiums der Universität Erfurt in meiner Dissertation intensiv mit der Frage, wie eigentlich Wissen um Zeremoniell entstand, bewahrt und weitergegeben wurde.

Kaiser Leopold I. (1640-1705) im Harnisch mit Feldherrnstab, Kniestück. Gemälde von Benjamin von Block, 1672, Kunsthistorisches Museum.

Der erste Aktenbestand, den ich mir in diesem Kontext im Staatsarchiv Gotha genauer ansah, waren die Papiere zu den erwähnten „Fürsten-Conventen“. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass es sich bei diesen um insgesamt drei Treffen in den Jahren 1700 und 1701 in Goslar, Nürnberg und Frankfurt handelte. Und damit sind wir bei der zweiten Krise abgekommen, der um 1700: Anno 1692 hatte Kaiser Leopold I. den in Hannover residierenden bisherigen Herzögen von Braunschweig-Lüneburg eine Rangerhöhung angedeihen lassen. Ohne sich mit den Fürsten des Reiches abzusprechen, waren sie zu den neunten Königswählern, zu Kurfürsten geworden. Dieser folgenschwere Akt stürzte das ganze Reich in die Krise, in der alles Spitz auf Knopf stand: Zahlreiche geistliche und weltliche Fürsten sahen nicht nur ihre Rechte und damit ihren gesamten Stand bedroht, sondern das ganze Reich in seinen rechtlichen Grundfesten angegriffen. Sowohl die Bestimmungen der Goldene Bulle von 1356 als auch der Westfälische Frieden von 1648 und der gerade erst nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg wieder hergestellte Frieden in Europa waren wenigstens in Frage gestellt.

Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Gemälde von Christian Schilbach, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha.

Die Fürsten nahmen besonders übel, dass ihr Recht zur Mitentscheidung in der Frage von so bedeutenden Rangerhöhungen ignoriert worden war. Und als 1699 auch der Sohn dieses ersten neuen Kurfürsten in seiner Rolle bestätigt war, sah manch einer das Ende des Reiches gekommen. Um in dieser stürmischen und entscheidenden Phase nicht unterzugehen, strebten einige Fürsten eine Vereinigung an. Sie wollten sich nach innen gegenseitig militärisch schützen und zugleich nach außen als Gegner der Einführung der Neunten Kur zu positionieren. Federführend waren hier Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg sowie die Bischöfe von Münster und Würzburg, Friedrich Christian und Johann Philipp. Hinzu kamen zeitweise bis zu 18 weitere Fürsten. Drei mal trafen sich Vertreter dieser „Correspondierenden“ oder der „Union“, wie sie sich nannten, um ihre durchaus kontroversen Ansichten auszutauschen, die anzubringenden Maßnahmen zu koordinieren und vor allem geschlossen beim Kaiser Beschwerde einzulegen. Nebenbei wurden aber auch zahlreiche weitere Anliegen besprochen, wobei etliche tausend Seiten Papier beschrieben wurden. Im Staatsarchiv Gotha betreffen die acht Akten Geheimes Archiv 3634 bis 3641 direkt und ausschließlich diese drei Versammlungen. Manche der Papiere sind vorbildlich sortiert, andere hingegen in Lose-Blatt-Sammlungen abgelegt. Als ich im Frühjahr und Sommer 2019 diesen Bestand las und exzerpierte, saß ich am Ende mit über 160 Seiten Auswertung da – und wollte mich möglichst niemals wieder mit diesem Wust aus Notizen befassen müssen. Und glücklicherweise ergaben sich bald andere, ebenfalls fruchtbare Arbeiten.

Doch dann saß ich im März dieses Jahres recht plötzlich auf unbestimmte Zeit unter verschärften Bedingungen in Bayern fest. Ich hatte nur einen kurzen Aufenthalt geplant und entsprechend kaum Lektüre mitgenommen. Daher galt es also, sich mit dem zu befassen, was greifbar war. Damit war die Stunde der Akten zum „Verein der Korrespondierenden Fürsten“ gekommen. Die bisher für mich völlig unübersichtlichen Akten-Exzerpte wandelte ich in Tabellen um: Jedes Ereignis und jedes Schriftstück erhielt seinen Platz in einer chronologischen Auflistung. Jedes besprochene Themenfeld erhielt einen Vermerk. Ziemlich genau zweitausend Zeilen erlaubten jetzt einen Überblick und eine systematische Rekonstruktion sowohl der äußeren Ereignisse als auch der besprochenen Themen.

Die Zusammenführung der analysierten Dokumente in Tabellenform samt Friedrich II. (c) Marian Hefter

So tat sich mir ein ganzes Panorama der europäischen Diplomatie in den Jahren um 1700 auf. Streitigkeiten um das Erbe ausgestorbener Fürstenfamilien spielten auf den drei Kongressen ebenso eine Rolle wie die Kosten für angemessene Kleidungsstücke für den Besuch am Wiener Kaiserhof. Gesandte reisten in geheimer Doppelmission von Nürnberg nach Versailles, andere trafen sich beim Kuren in Wiesbaden zum vertraulichen Gespräch. Während in Goslar, Nürnberg und Frankfurt getagt wurde, brach der Große Nordische Krieg aus und starb der König von Spanien kinderlos. Unterdessen reiste Kaiser Leopold I. zwischen seinen Residenzen umher, sandte Boten und Diplomaten aus und versuchte, sich die Korrespondierenden Fürsten mit ihren Beschwerden über die Neunte Kur vom Leib zu halten. Die Opponierenden zählten unterdessen ihre Truppen, riefen offen die waffenstarrenden Könige Louis XIV. von Frankreich und Karl XII. von Schweden als Garantiemächte des Westfälischen Friedens an und ließen doch zugleich ihren dänischen Verbündeten im Stich. Gleichberechtigt mit diesen europaweit bedeutenden, militärischen Aktionen wurde aber auch über allerlei zeremonielle Unklarheiten verhandelt: Welcher Rang sollte etwa den nicht-ebenbürtigen Fürstengattinnen zugestanden werden? Aus welchem Material sollten Knöpfe gefertigt werden dürfen? Und auch die Anzahl der Pferde, die in Wien vor eine Kutsche gespannt werden sollten, musste abgesprochen werden – wie viele Pferde man dort überhaupt besaß, spielte indes keine Rolle. Da waren die Verhandlungen über die Vereinheitlichung des Zeremoniells für Gesandtenempfänge zumindest vermeintlich näher an der alltäglichen Realität, womit wir wieder bei dem eingangs erwähnten Briefwechsel zwischen Gotha und Kassel angekommen wären.

Diese und weitere Fundstücke aus den Akten haben mich nun für etwa zwei Monate während der bayerischen Ausgehbeschränkungen begleitet und beschäftigt. Mit Sicherheit hätte ich mich ohne diesen erzwungenen Ruhestand nicht mehr in dieser Ausführlichkeit mit dem „Verein der Korrespondierenden Fürsten gegen die Neunte Kur“ auseinandergesetzt. Dessen letzte verbliebene Mitglieder hatten es übrigens schon 1701 geschafft, sich diplomatisch in eine völlig aussichtslose Lage zu manouvrieren. Entsprechend erlebten im Jahr darauf zwei von ihnen noch einmal wirkliche Krisen im Wortsinn: Das Land Anton Ulrichs wurde über Nacht von Truppen des neunten Kurfürsten besetzt, worauf er zu seinem herzoglichen Freund nach Gotha floh. Eine persönliche Katastrophe konnte er nur abwenden, indem er sich der militärischen Übermacht beugte und jeden weiteren Widerstand aufgab. Friedrich II. ließ es hingegen nicht ganz so weit kommen – und konnte den Ausgang der Krise zwar nur knapp, aber dann sogar noch zu seinen finanziellen Gunsten wenden. Doch das ist eine andere Geschichte, die uns weit weg von den Verhandlungen in Goslar, Nürnberg und Frankfurt führen würde.

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